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„Tod in Venedig“ von Benjamin Britten: Personifizierter Eros überwältigt reisenden Schriftsteller
Kaum ein „letztes Werk“ der Opernliteratur stellt den am Ende des Lebens stehenden Kampf gegen den Tod so unübersehbar ins Zentrum wie Benjamin Brittens DEATH IN VENICE, uraufgeführt am 16. Juni 1973 in Aldeburgh...
Kaum ein „letztes Werk“ der Opernliteratur stellt den am Ende des Lebens stehenden Kampf gegen den Tod so unübersehbar ins Zentrum wie Benjamin Brittens DEATH IN VENICE, uraufgeführt am 16. Juni 1973 in Aldeburgh...
Die Oper „Tod in Venedig“ hat nur einen Handlungsstrang, der schnell zusammengefasst ist: Ein alter Mann stellt einem Jungen nach. Bereits Generalsmusikdirektor Donald Runnicles erläuterte vor der Premiere, dass dieses Thema alleine kein Stoff für eine Oper sei. Er wies darauf hin, mehr Fragen zu stellen, die dann schließlich auch was mit jedem einzelnen Zuschauer zu tun haben könnten: „Sollte man von den verbotenen Früchten kosten?“, so Runnicles im Opernjournal-Interview.
Zunächst sei noch herausgestellt, dass sich die Deutsche Oper früher und heute stets um das Werk von Benjamin Britten verdient gemacht hat. Sogar die Erstaufführung von „Tod in Venedig“ fand 1974 nur ein Jahr nach der Uraufführung statt. Die jetzige Neuinszenierung ist sogar der vierte und letzte Teil des von Runnicles initiierten Britten-Zyklus.
Die Inszenierung in der Regie von Graham Vick hebt besonders stark auf die inneren Prozesse der Hauptfigur ab. Paul Nilon gelingt es, Unsicherheit, Ängste und schließlich auch die todbringende Verzweiflung des Schriftstellers Gustav von Aschenbachs darzustellen. Trotz des etwas einfallslosen Anzuges und einer etwas zu locker geknoteten Krawatte gelingt es Nilon sogar, in jeder Geste die Zuneigung zum hübschen Jüngling Tadzio glaubwürdig erscheinen zu lassen. Diese wenig eingängige, sehr lange Höllenpartie bringt der britische Tenor mit großer Leichtigkeit und intensivem Ausdruck zu Gehör. Besonders seine vibratoarme Gestaltung der Mezzoforte- und Forte-Linien hat eine sehr eindringliche Wirkung.
Die Besetzungsliste der Oper ist einerseits sehr lang, aber andererseits sehr kurz! Nur der amerikanische Bassbariton Seth Carico hat noch wirklich viel zu Singen. Er stellt gleich sieben Rollen dar: Der Reisende, Der ältliche Geck, Der alte Gondoliere, Der Hotelmanager, Der Coiffeur des Hauses, Der Anführer der Straßensänger, Die Stimme des Dionysos. So fasziniert in der Aufführung nicht nur die Wandlungsfähigkeit des spielerisch sehr präsenten Sängerdarstellers, sondern auch sein luxuriöser, wohlklingender Bariton. Seth Carico wies in einem Radiointerview vor der Premiere darauf hin, dass jede der sieben Rollen eine andere sängerische Gestaltung benötigt. Beim genauen Hinhören gelingt Carico diese Wandlung im musikalischen Ausdruck sehr gut. Als Reisender klingt er geheimnisvoll und zurückhaltend, als Coiffeur gewitzt und spielerisch.
Ein weiterer Star des Abends ist allerdings Rauand Taleb als Tadzio in der stummen Rolle des Tadzios. Der dunkelhaarige Berliner mit kurdischen Wurzeln, immerhin in echt etwa doppelt so alt wie sein gefordertes Spielalter, hat unter Anleitung des stilsicheren Regisseurs Graham Vick einen Weg gefunden, ohne Gesang, sogar ohne Worte die komplexe Beziehung zu Aschenbach und die kindhafte Leichtigkeit des eigentlich überforderten Vierzehnjährigen darzustellen. Ihm zur Seite steht Anthony Mrosek als geheimnisvoller Freund Jaschiu und ein sehenswertes Action-Ensemble von acht jungen Leuten, die venezianische Lebensfreude verkörpern.
Britten komponierte die Oper „Tod in Venedig“ nach Schönbergs Methode mit „12 nur aufeinander bezogenen Tönen“. Donald Runnicles leitet diesen Abend mit großer Eleganz für die Tutti-Stellen und gelungenem Einfühlungsvermögen für die zahlreichen instrumentalen Soli. Dabei ist Runnicles für seine Sängerdarsteller stets ein zuverlässiger Maestro. Gerade aus der oberen Perspektive des ersten Ranges ist zu erkennen, dass Runnicles genau wie ein Uhrwerk die anspruchsvolle Partitur umsetzt. Er scheint keinen Einsatz zu vergessen und keine der vielen Hundert solistischen Passagen findet ohne durchdachte musikalische Gestaltung statt. Es ist somit auch ein großartiger Abend des Orchesters der Deutschen Oper Berlin.
Das Regieteam hat sich wie erwähnt für die Konzentration auf die inneren Prozesse des Gustav von Aschenbach entschieden. Das Stück stellt in dieser Interpretation gar nicht seine Erlebnisse dar, sondern findet in seinem Kopf statt. Das Stück beginnt mit der Aschenbach’schen Vision seiner eigenen Beerdigung. Das die Bühne im ersten Teil dominierende vergilbte Foto soll sogar Aschenbachs Grabstein verzieren. Auch im weiteren Verlauf nimmt Gustav von Aschenbach die Perspektive eines außen stehenden Betrachters ein und beleuchtet gelegentlich das Geschehen mit einem großen, punktförmigen Scheinwerfer.
Dabei könnte man die Bühne durchweg als „grünstichig“ bezeichnen, wäre da nicht die besonders vielfältige, einfallsreiche Lichtgestaltung von Wolfgang Göbbel. Das Team der Beleuchtungs-Abteilung findet stets den richtigen Farbton zwischen der Strandatmosphäre der gleißend hellen Lagunenstadt und den öligen Stunden am Strand, wenn Aschenbach die verbotenen Gedanken plagen. So entstehen beim Zusehen tatsächlich andauernd die Fragen: „Was hat das mit mir zu tun?“ und „Trägt das homoerotische Drama jetzt wirklich über drei Stunden?“, aber schließlich machen Musik, Bühne, Gesang und die einfallsreiche, nah am Textbuch gestaltete Inszenierung auch ohne viele Antworten einen sehenswerten Opernabend.
Premiere am 19. März 2017.
Deutsche Oper Berlin
Berlin, Deutschland
Oper in zwei Akten
Libretto von Myfanwy Piper nach Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“
Uraufführung am 16. Juni 1973 im Rahmen des Aldeburgh Festival in Snape bei Aldeburgh
Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 19. März 2017
Hauptfiguren: Gustav von Aschenbach: Paul Nilon; Der Reisende, Alter Geck, Alter Gondoliere, Hotelmanager, Frisör, Vorspieler, Stimme des Dionysos: Seth Carico; U. v. a.
In englischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
3 Stunden / Eine Pause
Musikalische Leitung: Donald Runnicles
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Telefonischer Kartenservice der Deutschen Oper Berlin: +49 (30) 343 84-343.
Website mit der Möglichkeit, Karten für die Deutsche Oper Berlin zu bestellen: www.deutscheoperberlin.de
Das Opernhaus Deutsche Oper Berlin ist in der Bismarckstraße 35, 10627 Berlin.
Am bequemsten erreichen Opernfans die Deutsche Oper Berlin mit der U-Bahnlinie U2, Station „Deutsche Oper“.